Die Corona- und die Computer-Viren. Eine philologische Grille
Das Wort ‚Virus‘ hatte sich schon vor der Corona-Pandemie pandemisch verbreitet. Denn es grassiert seit Jahren weltweit die Angst vor den Katastrophen und Zusammenbrüchen, die durch Computer-Viren ausgelöst werden.
Diese Angst ist offensichtlich begründet. Denn es gibt unter all denen, die einen auch nur lockeren Kontakt zu Computern, Smartphones und Internet haben, wohl niemanden, der nicht Zeugnis von viralen Attacken auf die Stabilität und Integrität sei- ner Internetnutzung ablegen könnte. Spam und Trash sind die harmlosen Infektionen, die sich auf unseren Mediengeräten tummeln. Sie sind lästig wie kleine Erkältungskrankheiten, doch sie lassen sich relativ leicht ausscheiden. Man kann aber auch Identifikation mit dem Aggressor ausbilden und Influencer bzw. virale Werbung als avancierte Formen konsumistischer Kommunikation feiern – bitte infiziert mich; Moden aller Art sind virale Infektionsprogramme. Üble Hackerangriffe, die unsere Software infizieren und zügig auch die Hardware lahmlegen, sind hingegen nur abzuwehren, wenn Computer- und Smartphone-Nutzer ihre Kontakte kontrollieren, Abstandsregeln wahren und die Immunsysteme ihrer Geräte stärken. Längst ist die Angst vor Computer-Viren in mächtigste Sphären vorgedrungen. Großkonzerne, Staaten und internationale Organisationen haben seit langem hochgerüstete Abteilungen eingerichtet, die nur eine Aufgabe haben: Daten und Kommunikationsstrukturen vor existenzbedrohenden Attacken durch Computerviren zu schützen.
Eine bemerkenswerte Konstellation: Es gibt haufenweise Corona-Leugner, aber keinen einzigen Computer-Virus-Leugner. Dabei kooperieren beide Co-(Computer bzw. Corona-)Viren. Wer gegen allen Augenschein und alle Handgreiflichkeiten das Wüten einer weltweiten Virus-Infektion als Fake-News verbucht, tut dies ja im
stolzen Bewusstsein, eine Verschwörung durchschaut zu haben. Er muss sich dabei notwendiger Weise auf Weisheiten berufen, die im Internet kursieren, das ja wie alle Medien in der diesmal sachlich angemessenen Wahrnehmung des Corona-Leugners viral infiziert ist. Viren sind angesagt, sie haben das Sagen, sie verbreiten sich gespenstisch schnell, sie bedrohen unsere semantische wie unsere somatische Integrität. Die Unterscheidung zwischen der semantischen und der somatischen Sphäre ist altehrwürdig. Schon die alten Griechen bedachten die Affinität und Differenz von ‚soma‘ (Körper, Leib, Lebendiges) und ‚sema‘ (Zeichen, Bedeutendes). Gewitzte Theologen im Hochmittelalter entwickelten komplexe Modelle der Transsubstantiation, die plausibel machen sollte, wie aus den Symbolen Brot und Wein die leibhafte Präsenz des Gottessohnes hervorgehen könne. Und noch die Computer- und KI-Theoretiker am MIT (Massachusetts Institute of Tech- nology) in Boston arbeiten mit der Unterscheidung von Atomen (kleinsten physischen Einheiten) und Bits (kleinsten Informationseinheiten).
Die semantisch-somatische Doppelverwendung des Begriffs ‚Virus‘ steht seltsamer Weise nicht im Mittelpunkt der inflationären Corona-Debatten. Dabei ver- dient sie alle Aufmerksamkeit. Dies auch deshalb, weil die Computer-Virus-Pandemie der Corona-Pandemie zeitlich vorausgegangen ist. Aber sie bleibt eben erst einmal in der semantischen Sphäre; sie rückt uns bei allem Stress, den sie auslöst, nicht sofort somatisch nahe. Erst wenn eine Computer-Virus-Attacke für eine gewisse Zeit (einige wenige Tage genügen) die Versorgung mit Strom, Wasser, Geld und Waren lahmlegen würde, würden wir handfest spüren, wie eng im Internetzeitalter die Verbindung von Sema und Soma geworden ist. Nach einem Bonmot, das vielen philosophischen Anstrengungen des neuen Realismus über- legen ist, muss das als wirklich gelten, was auch dann nicht verschwindet, wenn man nicht dran glaubt. Wäl- der brennen immer heftiger, Gletscher schmelzen immer schneller, Überschwemmungen mehren sich, auch wenn man nicht an den Klimawandel glaubt; und auch Coronaleugner sterben an Corona-Viren. Die exzessive virale Kommunikation wird durch Viren ebenso bedroht wie die exzessive Kommunion von Menschen, die hohe Risiken eingehen, wenn sich viele, allzuviele zur selben Zeit am selben Ort befinden.
Es mag als philologische Grille gelten, auf die Über- präsenz der Silbe ‚Co‘ in den gegenwärtigen Kommu- nikationen über Corona hinzuweisen: Corona, Covid, Computer, Co-Inzidenzen. Doch gerade die durch die Silbe ‚co‘ angezeigte Zusammengehörigkeit (commu- nication, cooperation) ist bedroht. Es ist eine höhere, von Konsenstheoretikern aber gerne ausgeblendete Binsenweisheit, dass Kommunikation dissensbasiert ist. Weil wir Differenzen haben, kommunizieren wir. Problematisch, ja pathologisch aber wird auch dis- sensbetonte Kommunikation, wenn sie semantische Differenzen zu somatischen Bedrohungen eskalieren lässt. Die ungemeine Gereiztheit der jüngeren Diskus- sionen über gendergerechtes Reden und Schreiben
und die nicht geringere, mit somatischen Ausschlussdrohungen (diese Rassist*innen und Sexist*innen dürfen hier keinen Vortrag halten) verbundene Gereiztheit der Diskussion um politische Korrektheit (noch ein Co-Wort) sind starke Indizien dafür, dass nicht nur un- sere körperliche, sondern auch unsere kommunikative Integrität viral infiziert ist. Rechtsradikale, die heute noch ernsthaft auf ethnische und kulturelle Homogenität setzen, treffen auf Tugendterrorist*innen, die die Homogenität des Korrekten durchsetzen wollen. Nichts ist beiden unangenehmer, als im feindlichen Lager die eigene Frage als Gestalt zu erkennen. Wer als Rechtsradikaler den Islam(ismus) hasst, muss sei- ne eigenen patriarchalischen, fundamentalistischen, traditionalistischen, gewaltbereiten, antisemitischen Impulse übersehen. Und umgekehrt: Wer den alten weißen Mann als kritische Kategorie verwendet, ist Rassist*in; ‚alt‘ und ‚weiß‘ sind nun einmal biologisch- ethnische Kategorien (es sei denn, man hält black- oder whitefacing für konstruktive Strategien). Der Kammerjäger – das wusste schon Michel Serres – ist der Parasit des Parasiten. Computer-, Kommunika- tions- und Corona-Viren kooperieren; sie sind starke Verbündete. Man kann sie nicht besiegen, aber wir können uns gegen sie wehren, wenn wir aufhören, falsche Feinde zu bekämpfen.