Lady Hamilton – Eros & Attitüde

EROS UND ATTITÜDE
von Ursula Bode

Sie war das Inbild ihrer Zeit und deren Sehnsucht nach der fernen Vergangenheit griechischer und römischer Antike. Sie galt als die schönste Frau ihrer Epoche – eine umschwärmte Person, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts und kurz vor der französischen Revolution entscheidend daran beteiligt war, das bildnerische Ideal des Klassizismus in Europa zu verbreiten. Ihr kühnes Spiel mit Schals und Schleiern aus hauchdünnem Mousselin galt in Neapel, am Hofe des Königreichs beider Si- zilien, als kunsthistorische Lehrveranstaltung. Doch Lady Hamiltons europaweites Publikum bezauberte Dichter und Denker, Fürsten und bildende Künstler, ja auch Kriegshelden wie Lord Horatio Nelson, dessen gestickten Namenszug ihr blau- goldenes Stirnband trug. Es war eine buchstäblich bewegende Körpersprache, die Emma Hamilton, die junge Gattin des vergleichsweise betagten englischen Gesand- ten und Antiken-Sammlers, vor ihrem faszinierten Publikum zelebrierte. Emma, so heißt es, hielt sich offenbar im Gegensatz zum Rest der Welt gar nicht so sehr für eine schöne bewegliche Statue ihres antike Kunstwerke sammelnden Gatten. Sie fand sich eher „handsome and reasonable“, so hübsch und so vernünftig, wie sie es wohl auch war. Als europäische Mode-Erscheinung blieb sie bis heute im Gedächtnis der Welt.

„Attitudes“ nannte Lady Emma Hamilton damals ihre Vorführungen: „Lebende Bilder“ antiker Kunstgeschichte, die Präsentation weiblicher Rollen aus der antiken Mythologie, für die nur eine in Frage kam – Emma, die Tochter eines englischen Hufschmieds. Sie müssen damals in Hamiltons Villa am Meer wie durch Zauber erwachte Zeugnisse einer antiken Vergangenheit gewirkt haben: „Eros and Attitude“ vor der Kulisse des Golfs von Neapel, mit dem Vesuv im Hintergrund. Vor ausge- wähltem Publikum präsentiert, vom reisenden Europa als Ereignis gefeiert – und beispielsweise im Wörlitzer Gartenreich en miniature nachgebaut. Angesichts der politischen Lage dieser Zeit, mit politischen Umbrüchen vor der Tür und Revolutionen an der Schwelle, mögen „Attitudes“ und weisse Mousselin-Schleier eher eine Flucht in die Vergangenheit gewesen sein. Deren Ziel waren die Schauplätze der Antike, dorthin zog es die Schöngeister mit ihrer Sehnsucht nach einem uner- schöpflichen Fundus von Weisheit und Schönheit.

Antike Skulpturen und Gebrauchsgegenstände wurden damals in Pompeji quasi vor der Haustür ausgegraben; sie waren begehrt, sie waren kostbar; sie waren Zeugnisse einer anderen schönen Welt. Dagegen mussten die Gegenwart als spürbar gefährdet und die Zukunft mehr als ungewiss erscheinen. Auf die „Schönheit“ folgte unüber- sehbar der „Untergang“. „Et in Arcadia ego“, hatte Goethe seine „Italienische Reise“ noch überschreiben können. Friedrich Schiller nahm in seinem Poem der „Götter Griechenlands“ das Gegenteil für sich in Anspruch. „Alle jene Blüten sind gefallen, Heim die Götter, unnütz einer Welt, die, entwachsen ihrem Gängelbande, sich durch eigenes Schweben hält.“ Das 1788 in Wielands „Teutschem Merkur“ gedruckte Ge- dicht Schillers endet illusionslos: „Was unsterblich im Gesang soll leben, muss im Leben untergehn.“ Und Emma Hamilton stirbt 1815, elend und einsam.

SCHÖNHEIT UND UNTERGANG

Moritz Götze malt. Er zeichnet, er fotografiert, er montiert, er schaut, betrachtet seine Umwelt, berichtet, erzählt seine Bilder, beteiligt sich an Katalogen, gibt diese heraus und wundert sich über die große Summe kleinster Dinge, die dabei zusammenkommen. Der Leser seiner Kataloge wundert sich auch. Dass so viel zusammenkommt. Dass sich Bilderwelten bilden, Parallelwelten, Bildräume, Bildarchitekturen. Und zum Beispiel auch ein Katalog in eigener Sache. Zum 50. Geburtstag. Eine leichthändige Angelegenheit von satten 736 Seiten, Fotos und Bilderreihen inclusive. Buchformat. Das künstlerische Universum, private Einblicke eingeschlossen, ist bunt und schwarz- weiß. Lebensvergnügt, nicht lebenssatt. Und so unerhört detailreich, dass Rüdiger

Giebler, der Künstler-Freund, Moritz Götze zum „Weltenerklärer“ erklärt. Eine „gro- ße Summe kleiner Bilder“ erscheint 2014 in diesem Katalog-Buch „Aus meinem Leben Vol. 2“. Das Sehen, das Hinsehen, das Nicht-Satt-Sehen, der Augenschmaus sei das Eigentliche dieser Bilder, meint Giebler: Und dazu „mit Selbstironie unterfütterte Anflüge von Größenwahn“.

Das Leben geht weiter und füllt sich an mit Bild-Erzählungen; Ausstellungen folgen und neue Ziele: In Moritz Götzes Atelier in Halle, zum Beispiel, sind Messtischblätter zusammengeklebt an die Wand montiert. Höhe: 4,40 Meter. Eigentlich ist das Kar- tenmaterial für Wanderer. Für Götze allerdings (auch) der Beleg dafür, wie kurz die Entfernung zwischen Halle und Wörlitz ist. Man könnte dies auch anders beweisen. Doch im Geflecht dünnster Linien wirkt die Distanz geradezu abenteuerlich.

Halle ist Moritz Götzes Stadt. In Wörlitz, mitten im „Gartenreich“, stellt er jetzt seine Arbeiten aus. Es ist ein Ort von Geschichte und Geschichten. Nützliches für die Untertanen wie für die Herrschenden: Literatur, Theater, Obstanbau, Brückenbau, Kriegskunst. Von hier aus fuhr man in fürstlicher Kutsche quer durch Europa, auf der Suche nach modernen Errungenschaften der Zeit. Georg Forster machte in Wörlitz Station, der Prediger Lavater war wohlgelitten, das Schöne und das Nützliche zu verei- nen, war ein Wahlspruch der Zeit. – Er sollte sich mit der Einrichtung des Bauhauses noch einmal als wesentlich und wirksam erweisen.

Vom „Gartenreich“ sprach man um 1800 in Europa. Lady Hamiltons Ruhm verblich. Doch machte die Dame auf einer Rückfahrt nach England, auf dem Weg nach Ham- burg, Halt in Vockerode. Ein Zufall, einer Wagenpanne geschuldet. Es gibt viele Geschichten um Fürst Leopold von Anhalt-Dessau und Fürstin Louise. Goethe war öfter da und es heißt, die Gärten seiner „Wahlverwandtschaften“ seien vom „Gar- tenreich“ inspiriert. „Goethe in Italien“, Tischbeins großes Dichterbild, hat Moritz Götze für sich interpretiert, samt Zivilisationsmüll der Jahrhunderte. Daraus wurde eine Feldforschung aus heiterer Distanz, ein sehr eigenes Thema. Das „Beste aus dem achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert“, nennt Giebler das: „Die große Summe kleiner Dinge, die jeder anders sieht, nichts Planbares, nur die poppe- bunten Geröllhalden sind immer da ...“

So entstehen „Material-Sammel-Schlachten-Bilder“: Die heimatliche Umgebung samt Personal und zahllose Reise-Bilder stehen dafür bereit. Rosenhecken, Stadtarchitektur von heute, Riesenzuckerrüben mit Rokoko-Rankenwerk aus dem „Gartenreich“, wo Propellermaschinen warten und Papageien flattern wie die Sommerkleider der hübschen Mädchen. Alles Stahl, Email und Farbe. So sollten sie sein, die Historien- bilder, schrieb Giebler dem Freund ins Poesiealbum zum 50. Geburtstag, „erlösend, aufklärend und irgendwie abgeklärt – den Traum vor das Trauma setzend“. Hier, meint Giebler, sei der Maler zum „Historienmaler gereift“: Und er hat recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass der Freund in einer Kunstform arbeite, die viele für längst ausgestorben hielten.

Zu Moritz Götzes Bild-Repertoire gehört das Historienbild seit längerem, samt Zivi- lisationsmüll. Überraschend, wie die Historienfragmente bei Götze ihre eigene Würde behalten. Die Bilder seien dessen Tagebuch, sagt Giebler. „Und es wird nie langweilig ... Jedes seiner Bilder hat einen Protagonisten, der den Betrachter förmlich in das Bild hereinwinkt.“

Es ist eine schattenlose, buntfarbene Bilderwelt, in der Figuren und Szenen agieren. Auch dies eine Geschichte der Wandlungen. Serien entstehen dabei, ganze Arbeitsfel- der verschiedener Techniken, wie sie der „Bildersaal deutscher Geschichte“ brauchte, um sein Thema deutlich zu machen: eine Angelegenheit zwischen Moritz Götze und Größen der Malerei des 19. Jahrhunderts. Böcklin, Menzel, Anton von Werner und andere Heroen treten auf. Ein Sängerwettstreit selbstverständlich. Darauf kann ein Ironiker nicht verzichten. Kurz gefasst lautet das: Rote Pumps und sterbender Krieger. Schönheit und Untergang.

UND MÄDCHEN TANZEN

„Noch wusste ich nicht, dass sich auf einer ganz kleinen Fläche die Natur in solcher reizender Mannigfaltigkeit und edler Einfalt darstellen lässt. Noch hatte ich nicht erfahren, dass man auf den ersten Blick so weggerissen werden kann ... zu arcadischer Wollust ...“ Der Herr aus dem empfindsamen Zeitalter, der sich hier so emphatisch äußert, war Johann Georg Zimmermann, ein berühmter Arzt, Botaniker und Schrift- steller. Wohlvertraut mit den Maximen des Wörlitzer „Gartenreichs“, dem Schönen und dem Nützlichen huldigend wie viele im Umkreis des Dessauer Hofes.

Die Natur in ihrer „edlen Einfalt“ zu erleben, gehörte zu den Vergnügungen höfischer Kreise und wohlhabender Bürger der Zeit um 1800 – einer Epoche, die sich leistete, diese Natur in Bildern, aber auch als Porzellan-Malerei chinesischer oder japanischer Herkunft festzuhalten. Porzellan war kostbar; Keramik – das heißt Tongefäße – blieb dem Volk überlassen. Von „reizender Mannigfaltigkeit“ der Vorgaben war noch keine Rede. Viel später erst, etwa um die Wende zum 20. Jahrhundert erlebte die Kera- mik erste Höhepunkte: Das braun Getönte wurde farbig. Künstler bedienten sich des Werkstoffs mit schönem Erfolg. Mit der Ausstellung der Hallenser Keramik- Künstlerin Grita Götze im Wörlitzer Schloss ist das Prinzip schöner Nützlichkeit und nützlicher Schönheit ins „Gartenreich“ zurückgekehrt.

„Malerische Momentaufnahmen eines einzigen Ereignisses und Motivs“ hat man ihre Arbeiten genannt. Das musikalische Prinzip von Thema und Variation lässt sich in den jetzt im Wörlitzer Schloss ausgestellten Objekten verfolgen. Grita Götze zeigt dort ihre mit leichter Hand elegant geformten, leicht bauchigen Deckelvasen: Gruppen von etwa 50 cm hohen Gefäßen, die der Künstlerin als Malgründe für ihre Bilderzählungen dienen. Idyllen von heiterer Eleganz sind so entstanden, irdische Paradiese entfalten sich in der Rundansicht der Vasen. Und bei aller Grazie und tänzerischer Bewegtheit erscheinen Grita Götzes Motive nicht aus der Zeit gefallen. Ihre anmutigen Gestalten, die jungen Frauen, die Blumenszenerien sind heutig, nicht von gestern.

Jede Vase trägt andere Ornamente, jedes Gefäß erzählt eine andere Geschichte. Muster ähneln Brokatstoffen oder japanischen Holzschnitten. Zwei große tönerne Objekte erinnern an malerische Hecken-Figuren der italienischen Renaissance. Die Welt ist offen, die Künstlerin geht darin spazieren, die Gestalten junger Frauen fließen in ornamentale Flächen ein. Und schöne Mädchen tanzen.

Grita Götze ist eine eigenwillige, einzelgängerische Künstlerin. Aufgewachsen in Gernrode und Halle, absolvierte sie nach einer Töpferlehre das Keramikstudium an der Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein. Im „Gartenreich“ zeigt sie neuere Arbeiten, in Räumen mit chinesischem Dekor, wie das 18. Jahrhundert sie verstand: sinnreich dekoriert, vielfarbig und zierlich in der Form. Grita Götze arbeitet ganz klassisch mit Ton und nicht ohne Kühnheiten, was ihren Umgang mit Glasuren und die Wahl ihrer Dekore betrifft. Stille umgibt ihre Arbeiten. Kontemplativ geht sie damit um. Pflanzen und Skizzenbücher sind ihre Begleiter, und ihre Objekte entstehen in Reihen.

Grita Götzes Arbeitsweise, so heißt es, zeichne sich durch einen geradezu anachro- nistischen handwerklichen Aufwand aus: Sie ist in ihrem Metier eine Perfektionistin. Dass sie auch eine Poetin sein kann, zeigen ihre neuen Arbeiten: Jede Vase trägt andere Ornamente, jedes Gefäß erzählt eine andere Geschichte. Allen eigen ist die Stille, die sie umgibt, sind die Momente von sachter Bewegung, die das Dekor auszustrahlen scheint. Junge Frauen gleiten über die Bildflächen. Alles ist Harmonie, Schönheit, Eleganz. Die Zeit scheint angehalten. Zarte schöne Mädchen tanzen, wie Pflanzen ihre Blüten entfalten. Sie könnten Lady Hamiltons „Attitudes“ nachspielen, als kämen sie gerade aus der „Villa Emma“ im Wörlitzer Park.

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Deutsche Kunst in Minnesota, USA